
"The Persistence of Memory"
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Surrealismus ist kein Stil, sondern eine Haltung: die feste Überzeugung, dass in jedem von uns eine zweite, poetischere Wirklichkeit schlummert – wartend darauf, in Bild, Wort oder Traum ans Licht zu treten.
Surrealismus – wenn Träume die Bühne betreten
1 | Was ist Surrealismus?
Surrealismus bezeichnet eine künstlerische und literarische Bewegung, die ab 1924 – dem Jahr, in dem André Breton sein Manifest du surréalisme veröffentlichte – in Paris Gestalt annahm. Der Begriff leitet sich von sur-réel („über der Wirklichkeit“) ab: Surrealist*innen wollten nicht die Welt abbilden, sondern die unsichtbare Landschaft des Unbewussten freilegen – Träume, Fantasien, verdrängte Wünsche.
2 | Geburtsstunde: Europa nach dem Ersten Weltkrieg
Die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hatten den Glauben an Rationalität erschüttert. Junge Avantgardisten, zunächst um die dadaistische Szene versammelt, suchten nach einer radikal neuen Ausdrucksform. Psychoanalyse (Freud), Spiritismus-Moden und politischer Aufbruch (Kommunismus-Debatten) lieferten den geistigen Nährboden.

André Breton (1869-1966) - Mitbegründer und wichtigster Theoretiker der surrealistischen Bewegung
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3 | Idee & Methoden
Im Kern verstanden die Surrealist*innen Kunst als Befreiungsakt des Unbewussten. Um die „zweite Wirklichkeit“ hinter der nüchternen Vernunft freizulegen, griffen sie zu vier miteinander verzahnten Verfahren. Erstens kultivierten sie den Automatismus: Beim automatischen Schreiben, Blind-Zeichnen oder der von Max Ernst erfundenen Frottage gaben sie jede bewusste Kontrolle auf, damit Worte und Formen scheinbar von selbst aufs Papier strömten. Zweitens setzten sie auf Traumlogik. Ob Dalís paranoisch-kritische Methode oder Magrittes Bild-Paradoxe – reale Gegenstände wurden in unmögliche Kombinationen versetzt, sodass der Betrachter in eine Welt aus Schlaf und Halluzination kippt. Drittens suchten sie den Zufall als kreativen Komplizen: Spiele wie der „Cadavre exquis“, Collagen oder spontane Wortassoziationen erzeugten verblüffende Brüche, die kein noch so schlauer Kopf bewusst hätte planen können. Und viertens verstanden sie den Surrealismus als Akt der Revolte gegen jede erstarrte Moral: Skandalöse Ausstellungen, antiklerikale Pamphlete und politische Manifeste sollten die bürgerliche Welt erschüttern und Platz für eine radikal poetische Gesellschaft schaffen. Gemeinsam formten diese Strategien ein Werkzeugset, mit dem die Bewegung Träume, Begehren und verborgene Ängste direkt in Kunst überführte – jenseits von Vernunft, Stilkonvention oder Zensur.
4 | Die großen Namen der Bildenden Kunst
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Salvador Dalí (Spanien): schmelzende Uhren (The Persistence of Memory, 1931) und paranoisch-kritische Traumwelten.
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René Magritte (Belgien): scheinbar nüchterne Malerei, die Sprach- und Wahrnehmungsklischees aushebelt (Son of Man, 1964).
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Max Ernst (Deutschland/Frankreich): Erfinder von Frottage und Grattage, monumentale Alptraum-Visionen wie Der Triumph des Surrealismus (1937).
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Joan Miró, Yves Tanguy, Leonora Carrington, Frida Kahlo (Grenzgängerin) erweiterten das Vokabular um amorphe Formen, Mythen und feministische Motive.

"Der Menschensohn" von René Magritte
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5 | Stimmen der Literatur
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André Breton – „Generalsekretär des Unbewussten“, Autor zweier Manifeste und des Romans Nadja (1928).
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Louis Aragon & Philippe Soupault – früh automatische Romane (Anicet, Les Champs Magnétiques).
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Paul Éluard, Robert Desnos – Lyrik, die Tagesreste und Traumbilder verwob.
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Querverbindungen zu Tristan Tzara (Dada) und Samuel Beckett zeigen, wie weit der surrealistische Funke sprang.
"Der Spiegel eines Augenblicks" von Paul Eluard
Zerstreue den Tag
Männerbilder vom Aussehen losgelöst zeigen,
es nimmt den Menschen die Möglichkeit, abgelenkt zu werden,
es ist hart wie Stein,
der formlose Stein,
der Stein der Bewegung und des Sehens,
und hat einen solchen Glanz, dass alle Rüstungen
und alle Masken sind gefälscht.
Was die Hand überhaupt genommen hat
beschließt, die Form der Hand anzunehmen,
was verstanden wurde, existiert nicht mehr,
der Vogel wurde mit dem Wind verwechselt,
Himmel mit seiner Wahrheit,
Mann mit seiner Realität.

Louis Aragon - Mitbegründer der surrealistischen Bewegung
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6 | Bühne, Film & Fotografie
Surrealismus war multimedial: Luis Buñuel drehte mit Dalí Un chien andalou (1929), Man Ray experimentierte mit Fotogrammen, und Antonin Artaud entwarf sein Théâtre de la cruauté.
7 | Ausklang und Erbe
Der Zweite Weltkrieg zerstreute die Pariser Gruppe nach Mexiko-Stadt, New York oder Marseille. Doch die Ideen überdauerten: Abstrakter Expressionismus, Pop-Art, Psychedelic Art und heutige Virtual-Reality-Installationen tragen surrealistische Gene.
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